Ingeborg Dauß, Albert Einstein und Sebastian Fitzek – Geschwister im Geiste?
Diese Frage wird sich nie eindeutig beantworten lassen, denn mindestens zwei von ihnen können nicht mehr gefragt werden. Die Wahrscheinlichkeit ist allerdings recht groß, dass die drei sich gut verstanden hätten. Warum das so ist, wird sich zeigen. An dieser Stelle schon einmal so viel: Es hat mit Fischen zu tun.
Ingeborg Dauß war es eine Herzensangelegenheit, Kinder und Jugendliche auf ihrem Bildungsweg zu unterstützen, die von Hause aus zu wenig Förderung erhalten könnten. Mit dem Evangelischen Johannesstift fand sie einen Partner, mit dem sie die Ingeborg Dauß Stiftung ins Leben rief. 2010 wurde die Stiftung aufgebaut, in der Kinder von erwachsenen Mentor*innen seitdem begleitet und vom ganzen Stiftungsteam bis zum Abitur und darüber hinaus unterstützt werden. Ein Vierertandem sind die Schwestern Sarah und Nur Al- Michref und ihre Mentor*innen Claudia und Dietmar Lukat.
Stipendiatinnen der ersten Stunde
Sarah und Nur gehörten zu den ersten Stipendiatinnen der Ingeborg Dauß Stiftung. In der fünften Klasse haben sie gar nicht so genau gewusst, was auf sie zukommt. Sie haben nur gemerkt, dass so ein Stipendium etwas Besonderes ist und ließen sich auf das Experiment ein. Ihre Erwartungen, dass sie den einen oder anderen Ausflug machen und in schulischen Belangen unterstützt werden, wurden weit übertroffen, sagt Nur: „Damals haben wir nicht damit gerechnet, dass so eine intensive persönliche Beziehung entstehen würde.“ Ihre Schwester Sarah nickt.
Die persönliche Bindung entstand im Laufe der Jahre zu allen anderen Stipendiat*innen und auch zu ihren Mentor*innen. Den Hauptteil des Stipendiums wurden die Schwestern von Claudia und Dr. Uwe Hartmann begleitet. Das Ehepaar musste leider aus gesundheitlichen Gründen kurz vorm Abitur die Mentorenschaft abgeben. Für Claudia Lukat, der Projektleiterin der Ingeborg Dauß Stiftung, war klar, dass es in der Abiturvorbereitung nicht hilfreich gewesen wäre, neue Mentor*innen zu suchen. Nachdem sie selbst Sarah und Nur über Jahre kennen und schätzen gelernt hatte, entschied sie sich, einzuspringen. Ihren Mann Dietmar musste sie nicht lange überreden. Er hatte die Schwestern auf einer der drei Daußschen Sprachreisen erlebt und war gerne bereit, gemeinsam mit seiner Frau, Sarah und Nur bis zum Abitur zu begleiten.
Ingeborg Dauß und ihr Gespür für die Stipendiat*innen
Neben den innigen Beziehungen erhielten die Schwestern auch materielle Hilfe. Ingeborg Dauß hat einerseits immer Wert auf Abstand zu den Stipendiat*innen gelegt und andererseits immer mitgelebt. Sie bestand darauf, dass die Kinder ihr Englisch verbesserten und finanzierte über ihre Stiftung drei Sprachreisen. Ingeborg Dauß beschloss ebenfalls, den Kindern Laptops zu kaufen, damit sie sich gut auf den mittleren Schulabschluss (MSA) vorbereiten konnten.
Sarah beschreibt, wie dankbar die Schwestern dafür sind: „Wir konnten die Rechner sehr intensiv nutzen – auch jetzt wieder für die Prüfungsphase im Abitur. Drei Sprachreisen, viele Ausflüge oder auch mal eine Ablenkung in Form eines Kinobesuchs. Wir sind wirklich sehr froh darüber!“
Als Frau Dauß 2019 starb, war es Nur, die an ihrem Grab eine Rede hielt. „Durch Frau Dauß ist die Stiftung ja überhaupt erst entstanden und es ist wirklich groß, was sie damit geschaffen hatte. Und da machte es einfach Sinn, dass jemand von uns etwas dazu sagt, am Ende ihres Lebens.“ Und Sarah ergänzt: „Sie hat sich offenbar auch mit dem Gedanken befasst, nicht mehr lange zu leben und hat keine Geschenke angenommen.“ Die Erfahrungsberichte der Stipendiaten waren Ingeborg Dauß Dank genug.
Zum Abschied kommen die Fische ins Spiel
Das Stipendium endet ein Semester nach dem Abitur. „Das Ziel ist, dass möglichst alle versorgt sind“, sagt Claudia Lukat. Und ihr Mann Dietmar hatte zum Abschluss noch eine Idee. Alle Stipendiat*innen und Mentor*innen lesen wöchentlich ein Kapitel aus Sebastian Fitzeks Roman „Fische, die auf Bäume klettern“. Ein Vermächtnis an Fitzeks Kinder, das sich mit den Grundfragen des Lebens befasst. Für die jungen Erwachsenen die perfekte Lektüre, um sich zum Start ins Berufsleben zu entscheiden, welche Werte für sie wichtig sind. „Der Buchtitel bezieht sich auf ein Zitat von Albert Einstein“, erklärt Dietmar Lukat. „Er meint damit, wir sollen uns nicht von Dingen, die unmöglich zu sein scheinen, abhalten lassen, unseren Weg zu finden, wie immer er auch aussehen mag.“
Und das Buch scheint den richtigen Nerv zu treffen. Im regelmäßigen Austausch über die Kapitel wird Nur klar: „Jedes Mal, wenn ich ein neues Kapitel lese, denke ich, wieviel Sinn das für mich ergibt. Ich war vorher schon so, dass ich nicht zum Ziel hatte, perfekt zu sein und stattdessen mehr darauf achte, das zu machen, was mir wichtig ist. Das Buch bestärkt mich darin. Und ich denke mir auch, dass ich das Buch in ein paar Jahren noch einmal lese, damit ich es nicht vergesse.“
Dauß hat bei Sarah und Nur ihr Ziel erreicht
Nun haben die beiden Schwestern ihr Abitur in der Tasche und haben ihr Studium begonnen. Am Ende bleiben Abschiedstränen und eine große Wertschätzung für Ingeborg Dauß: „Ich bin sehr, sehr glücklich, dass wir diese Chance bekommen haben. Kurz vor Ende bin ich sehr traurig, dass es aufhören wird, weil es erstens, wie eine kleine Familie geworden ist. Andererseits haben wir so viele Sachen erleben können, wie zum Beispiel Ballett. Das hätten wir sonst wahrscheinlich nie gemacht und das hat uns echt weitergebildet“, sagt Nur. Und ihre Schwester Sarah ergänzt: „Wir hatten so eine Sicherheit. Wir wussten, wenn wir irgendetwas brauchen, können wir uns jederzeit an die Stiftung wenden.“